„Imago agens”
Eine Eröffnung von Peter Lang, 14.1.1999


Erlauben Sie mir einige Vorsätze zur Kunst des Vergessens und der Farbe Grau vorab:
Harald Weinrich widmet sich in seinem Buch „Lethe”, Kunst und Kritik des Vergessens ausführlich den Strategien des Vergessens.
„Genau an dieser Stelle setzt auch die Rhetorik mit ihrer Vergessenskunst ein. Wenn nämlich die Gedächtnisbilder – mit oder ohne Nachhilfe der rhetorischen Kunst – dem Geist gegenwärtig sind und das Gedächtnis vielleicht länger besetzt halten, als dem Willen lieb ist, dann muß die gleiche Phantasie (imaginatio), deren Wirken diese Bilder hervorgebracht hat, dazu aufgeboten werden, sie wieder zum Verschwinden zu bringen. Es wird gewissermaßen nur ein Hebel umgelegt, damit die Phantasie nun zwar gegen ihre eigentliche Natur, doch durchaus im Rahmen ihrer Möglichkeiten verhüllend, verdunkelnd, verwirrend oder vernichtend tätig werden kann. Ist etwa das Bild aus Papier vorgestellt, so kann es zerknüllt, in Fetzen gerissen, ins Feuer oder ins fließende Wasser (Lethe!) geworfen werden. Ein als Statuette vorgestelltes Gedächtnisbild kann aus dem Licht ins Dunkel gerückt oder durch ein darübergeworfenes Tuch, das natürlich ebenfalls aus Phantasiestoff gewebt ist, ganz unsichtbar gemacht werden. Bei besonders wirkmächtigen Bildwerken empfehlen die Meister der Vergessenskunst rabiatere Methoden. Ein Wachsbild kann man zum Schmelzen bringen, eine Tonstatuette auf dem Boden zerschellen lassen, und Holz– oder Steinfiguren wirft man am besten zum Fenster hinaus. Lina Bolzoni, die diese Traktate untersucht und genau beschrieben hat, kann hier dem Vergessenswilligen ein ganzes Arsenal an Zerstörungstechniken vor Augen führen, die nach der Meinung ihrer Erfinder vorzüglich geeignet sind, unliebsame Gedächtnisbilder wirksam auszulöschen.”
Es antwortet auf die Frage, was man tun kann, um die Gedächtnisinhalte, die sich mit Hilfe der Mnemotechnik möglicherweise tief in die Seele eingegraben haben, wieder aus ihr zu vertreiben. Auch dazu ist nämlich Kunst vonnöten.

Gespeichert, das heißt vergessen

Ein neuer Beruf: Wegwerfer

Was bei Nietzsche noch ein spezifisches Problem des Historikers und Philologen war, die wachsende Erinnerungslast der Geschichte, wird im 20. Jahrhundert zu einem allgemeinen Problem der Gesellschaft: das unaufhaltsame Anwachsen der Datenmengen, die zur Information angeboten sind und zur Kenntnis genommen werden wollen. Die jüngst noch herbeigesehnte, alle Lebensäußerungen umfassende und global vernetzte Informationsgesellschaft ist so vollständig verwirklicht, daß der Traum mit seiner Verwirklichung schon zum Alptraum geworden ist. Wo ist also in diesem Jahrhundert diejenige Unzeitgemäße Betrachtung zu finden, in der Klarsicht eine Bilanz von Nutzen und Nachteil der Information für das Leben erstellt wird, so daß diese dann gegebenenfalls durch mutiges Abwerfen überflüssiger Information verändert werden kann?
Es ist wieder einmal eine kleine Schrift, an die zunächst zu denken ist. Bei ihr handelt es sich um eine kurze Erzählung, die Heinrich Böll unter dem Titel „Der Wegwerfer”im Jahre 1957 veröffentlicht hat. Die Geschichte spielt in Köln. Dort, in der Ubier–Stadt gibt es eine honorige Versicherungsfirma namens „Ubia”, die 35o Angestellte beschäftigt. Unter ihnen hat einer – zugleich der Ich–Erzähler der Geschichte – eine besondere Aufgabe zu erfüllen. Dieser Angestellte versieht seinen Dienst schon vor der regulären Bürozeit und dann noch einmal unauffällig am Nachmittag für eine Stunde, jeweils kurz nach Posteingang. Seine Aufgabe besteht darin, die eingegangene Post vorzusortieren und alle überflüssigen Postzugänge, noch bevor sie zu den Sachbearbeitern der Firma gelangen, unbesehen wegzuwerfen. Er ist der Wegwerfer.

Für diese wichtige Aufgabe, die er täglich beidarmig, fast wie ein „Schwimmer” (im Lethe–Strom?), zu erfüllen hat, ist der Mann gut qualifiziert. Er ist ein „gebildeter Herr”um die dreißig, hat gute Manieren. In seinem Zivilleben trägt er einen grauen Zweireiher und bei der Arbeit einen grauen Arbeitskittel. Auch sonst benimmt er sich in vielerlei Hinsicht wie „der Graue” in Chamissos Schlemihl–Geschichte.”



Christoph Tannert beschäftigt sich in seiner Presseerklärung zu dieser Ausstellung auch mit der Farbe Grau: „Der Kurator ist einerseits ein Kulminationspunkt und andererseits oftmals ein Grauschleier, der mit seiner Macht und der seiner institutionellen Helfer jeden Präsentationszusammenhang in der Lage ist, zu ästhetisieren und ihn vorsätzlich zu etwas Wichtigem zu machen, das die Kunstobjekte sowohl mit intellektueller Patina zu überfrachten wie auch x–beliebig zu desavouieren vermag.”

Bei Georg Simmel stoßen wir in seinem Buch, Die Großstädte und das Geistesleben, und Biennalen finden nun mal in Großstädten statt, auf folgendes:
„Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge so daß die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem blasiertem in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert dem anderen vorgezogen zu werden.”

Ich will Ihnen die andere Seite der Medaille nicht verschweigen, General Stumm stößt auf sie in dem Roman Robert Musils, „Der Mann ohne Eigenschaften”, in der Wiener Staatsbibliothek:

”…nun habe ich sehen müssen, daß die einzigen Menschen, die eine wirklich verläßliche geistige Ordnung besitzen, die Bibliotheksdiener sind, und frage dich – nein, ich frage dich nicht; …ich sage dir: Stell dir Ordnung vor. Oder stell dir lieber zuerst einen großen Gedanken vor, dann einen noch größeren, dann einen, der noch größer ist, und dann immer einen noch größeren; und nach diesem Muster stell dir auch immer mehr Ordnung in deinem Kopf vor.”
Und hier könnte man einfügen, ist Kunst ein Ordnungs– oder ein Unordnungssystem? Oder was sind komplexe Informationssysteme; so man die Batterien der Computer und Aktenordner in den besten zeitgenössischen Museen, Kunstvereinen und Galerien, den frischen Lebenskunstwerksverwaltungen betrachtet: Stell dir Kunst vor. Stell dir noch mehr Kunst vor…

”…aber jetzt stell dir bloß eine ganze, universale, eine Menschheitsordnung, in einem Wort eine vollkommene zivilistische Ordnung vor: so behaupte ich, das ist der Kältetod, die Leichenstarre, eine Mondlandschaft, eine geometrische Epidemie!”
Oder, das ist die Resonanzkatastrophe, die Interferenz, die zum Nullpunkt führt. Nach physikalischen Erwägungen kann dann hier auch ein schwarzes Loch, nach theologischen die Transzendenz oder Gott kommen.

Und so finden sich vielleicht nach größeren Zeiträumen, sagen wir nach Jahrhunderten, nach den dann erfolgten Katastrophen und neuen Ordnungen, in den Museen oder in den Depots Kunstwerke nebeneinander, die in ihrer Kausalität, ihren Abhängigkeiten und Interferenzen nicht mehr zu entschlüsseln sind. Wir würden vor einem geistigem Labyrinth stehen.
Was wissen wir oder was können wir zu unserem Verständnis rekonstruieren, von der Zeit, in der das Werk entstand und vom Leben des hinter seinen Werken meist verschwindenden Künstlers?

Karl Spitzweg zum Beispiel, dieser Kaskadeur des Biedermeier hat ca. 1000 Bilder gemalt. 450 davon verkauft, 200 bis 300 verschenkt. Also ein für seine Zeit äußerst erfolgreicher Künstler. Was aber waren seine Strategien, die der Wiedereinführung der Landschaftsmalerei, der Transzendenz der Farben, der Rückzug des Individuums als Außenseiter, die Erlangung der Freiheit aus dem Rückzug heraus? wer kann dieses heute noch aus seinen Bildern entschlüsseln. Die Berliner Biennale, dieser postvakuum torpedo ist vorbei und man findet einen hochtalentierten autodidaktischen Maler im nächsten Club um die Ecke. Und man sollte sich fragen, was ist hier wann und warum durcheinandergeraten?

Sind denn die gesetzten Bildordnungsverfahren nicht immer höchst trügerisch? Und müssen wir nicht lernen wieder zu verschwinden, zum Palimpsest zu werden?

Die Redundanz der Informationssysteme und Kunst ist ein Teil dieser Systeme, könnte sich in einem grauem Rauschen niederschlagen, dem Sendeschluß des Fernsehens vergangener glücklicher Tage gleich. Da hilft es auch nichts, wenn besonders fischilante Trubadure des Betriebssystems Kunst, diese Systeme umbasteln wollen und sie dann avanciert zu beispielhaften Lebenskunstbereichen erklären. Die Überproduktionskrise holt auch im hochfeinen Kunstbereich ihre Erzeuger ein. Aber sind die Bereich überhaupt noch zu trennen in Kunst Unterhaltung, Informationskanal. Letztlich besteht die Gefahr aus dem Überfluß heraus, sich überall zu Tode zu langweilen, ob im Internet, vor dem TV oder in Biennalen ist letztlich gleich. Und so sind Bildordnungssysteme, Hierarchien der Ordnung en wohl immer wieder in Frage zu stellen:
Ich kann nicht ausdrücken, warum. Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über. …was so die Wissenschaft und Kunst nebenbei leistet, an großen und bewundernswerten Gedanken, das natürlich in Ehren, dagegen will ich nichts gesagt haben!”