Artikel zum Tod von Ossip Mandelstam
Moskau im Mai 1994



      Publikation


Ein Gespräch über M.

beteiligte Personen:

A.A.  
J.B.  
P.C.  
R.D.  
A.D.  
L.G.  
N.M.  
O.M.  
P.P.  













  Anna Achmatowa
  Joseph Brodsky
  Paul Celan
  Ralph Dutli
  Alexander Dymschitz
  Lydia Ginsburgh
  Nadeschda Mandelstam
  Ossip Mandelstam
  Pier Paolo Pasolini


O.M.:  Nein, so gewährt ihm doch seine Gerichtsverhandlung! Gestattet doch, daß die Dinge ins Protokoll aufgenommen werden... Laßt ihn sich selber sozusagen der Akte einverleiben. Beraubt M. nicht, so bitte ich euch inständig, seines Prozesses... Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen und, so wage ich euch zu versichern, wird niemals abgeschlossen sein.

J.B.:  Ein Dichter gerät wegen seiner sprachlichen und damit auch geistig–seelischen überlegenheit in Schwierigkeiten, nicht wegen seiner politischen Anschauungen.

P.P.:  Vielleicht ist da am Anfang nur ein Irrtum gewesen. Ein banaler Irrtum. Indem er sich abmüht in einem Vorraum des Lebens – das dann aber nur das Nicht–Leben jener hätte sein können, welche die Stalin–Diktatur akzeptierten – lebte M. also ein unwirkliches Leben, für das es keine Lösung gab.

O.M.:  „Ein Zigeuner hatte nur ein Pferd, doch ich bin Zigeuner wie Pferd in einer Person.”

P.P.:  M. hat gelebt wie ein geblendetes Tier auf gänzlich unbekannten Weiden. Seinen Zeitgenossen mag er als Mensch wie die anderen vorgekommen sein, als ein Mensch, der zu leben versucht.

R.D.:  Nicht der Bericht einer Kapitulation vor den Verwaltern der Literatur und des Lebens, sondern das Bekenntnis eines Dichters zum eigenen Weg, ein zorniges Pamphlet der Selbstbehauptung, das allen Zermürbungsversuchen trotzig, bitter widersteht. Der klärende Sturm.

O.M.:  Und alles war schrecklich, wie im Traum des Kleinkindes. NEL MEZZO DEL CAMMIN DI NOSTRA VITA – in der Mitte des Lebensweges wurde M. im sowjetischen Walddickicht von Räubern angehalten, die sich als seine Richter bezeichneten.

A.D.:  „Das 19. Jahrhundert”, dieser Aufsatz zeugt von einer nicht überwundenen idealistischen Sicht auf die Geschichte, ...wobei M. eine geschichtliche Leistung wie die Herausbildung der sozialistischen Arbeiterbewegung und der Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus gar nicht in sein Blickfeld bekommt.

O.M.:  Die ganze Unruhe dieser Zeit ging auf ihn über. Zu lange hatte sich die Intelligenzia von Studentenliedern genährt. Nun war sie dem Erbrechen nahe vor lauter Allerweltsfragen: ein und dieselbe Bierflaschenphilosophie!

L.G.:  Müßig, bei M. ein klar ausgerichtetes politisches Programm zu suchen.

O.M.:  Seine Arbeit wurde, wie immer sie sich äußerte, als Ungezogenheit auf–ge–nommen, als Gesetzlosigkeit, als etwas Zufälliges. Aber dies war ja sein Wille, er war damit einverstanden. M. unterschrieb mit beiden Händen.

J.B.:  Die Wirkung war, daß eine Stimme, je klarer sie wird, desto dissonanter klingt. Das mag kein Chor, und die ästhetische Isolierung erreicht damit physische Ausmaße. Wenn ein Mensch sich eine Welt schafft, wird er zu einem Fremdkörper, gegen den alle Gesetze gerichtet sind: Schwerkraft, Druck, Abstoßung, Vernichtung.

R.D.:  Gewiß stand M. durch sein Beharren auf der europäischen und humanistischen Kulturtradition in der Sowjetunion schon früh als Fremkörper fest.

P.C.:  Was den Gedichten zuinnerst eingeschrieben war, das tiefe und mithin tragische Einverständnis mit der Zeit, zeichnete auch dem Dichter seinen Weg,...

A.D.:  Der Dichter glaubte an die große Zukunft seiner Heimat. So war M. sogar in den für ihn schweren Verhältnissen der dreißiger Jahre als Dichter seinem Eid an das neue Jahrhundert treu.

O.M.:  „Nun los versuchen wir's: die große, linkische,
Die Wende! Knirsch nur, Ruderblatt...”

J.B.:  M's. Reaktion war vielleicht die einzig nüchterne auf die Ereignisse, die die Welt erschütterten und so viele nachdenkliche Köpfe schwindeln machten.

O.M.:  Die Oktoberrevolution mußte seine Arbeit beeinflussen, da sie ihm die „Biographie” wegnahm, das Gefühl einer persönlichen Bedeutsamkeit. M. war ihr dankbar dafür, daß sie ein für allemal Schluß gemacht hatte mit dem geistigen Versorgtsein und einem Leben auf Kulturrente.

J.B.:  Nicht, daß M. gegen die politischen Veränderungen war, die sich in Rußland vollzogen. Er besaß genügend Sinn für Maß und genügend Ironie, um die epische Qualität des ganzen Unternehmens anzuerkennen.

A.D.:  „...aber ich bringe ihr Gaben, die sie (die Revolution) vorerst nicht braucht.” Diese „Selbstbezichtigung” ist freilich übertrieben. Die revolutionäre Zeit nahm die Gedichte an, die ihr M. brachte, weil sie begriff, daß hier ein großer, begabter, suchender Dichter spricht. Aber die ungenügend weite Gesellschaftskonzeption engte den Kreis der Leser ein.

O.M.:  Bei aller Bedingtheit und Abhängigkeit des Schriftstellers von den Wechselbeziehungen der gesellschaftlichen Kräfte war er außerdem fest davon überzeugt, daß die moderne Wissenschaft über keinerlei Mittel verfügt, das Erscheinen erwünschter Schriftsteller dieser oder jener Art hervorzurufen. Da sich die Eugenetik in einem rudimentären Stadium befindet, könnten kulturelle Kreuzungen und Pfropfungen jeglichen Typus die unerwartetsten Resultate ergeben. Die Bereitstellung von Lesern ist eher möglich...

N.M.:  In ihm wuchs die Unzufriedenheit mit seinen Lesern. Ich glaube, daß er auch sie zu der „eingetrockneten Rinde” zählte...

R.D.:  Die erste Zeit in Moskau ist von der „großen Stumpfheit” der neuen ära geprägt, vor der es kein Versteck und kein Entrinnen gibt.

N.M.:  Manchmal konnte man den Eindruck haben, das ganze Land sei erkrankt, von Verfolgungswahn besessen.

J.B.:  Seine Dichtung wurde die einer hohen Geschwindigkeit und bloßgelegter Nerven, manchmal kryptisch,...

O.M.:  M. hatte keine Manuskripte, keine Notizbücher, keine Archive. Er hatte keine Handschrift, weil er niemals schrieb. Ganz allein in Rußland arbeitete er nach seiner Stimme...

A.D.:  Obwohl einige Gedichte unvollendet sind, zeigen die „Hefte” Beispiele schöner patriotischer Lyrik. Die Zeit, in der die Gedichte entstanden, war eine Zeit bedeutender Erfolge beim Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion...

N.M.:  ...wir gingen, als würden wir ständig von Röntgenstrahlen – der gegenseitigen Beobachtung – durchleuchtet.

A.A:  Jetzt wird alles klar. Nimm dein Mützchen mit den Ohrenklappen und dann ab mit dir in die Taiga. Dort, hinterm Stacheldraht, im tiefen Herzen der Taiga führt man meinen Schatten zum Verhör.

N.M.:  Und jetzt erfuhr ich die Formel: „Isolieren, aber erhalten.”
Der Mensch kann nur leben, wenn er seine Zukunft nicht kennt und hoffen kann, dem allgemeinen Schicksal zu entrinnen.

R.D.:  Die Zeit der Testamente war gekommen.

J.B.:  Was er hinter seinem Rücken „sich hastig nähern” hörte, war nicht ein „geflügelter Wagen”, sondern sein „Wolfshund–Jahrhundert”, und er rannte, solange Raum war. Als der Raum endete, erreichte er die Zeit.

O.M.:  Mir scheint, man dürfe den Tod eines Künstlers nicht von der Kette seiner schöpferischen Leistungen ausschließen, sondern müsse ihn vielmehr als das letzte, das Schlußglied der Kette betrachten.

A.D.:  Auch Zukunft wird zum Gegenstand seiner Gedichte. Verhüllt auch hier vom Rauch der Utopien.

R.D.:  Im Gedicht Nun bewahr es, auf immer, mein Wort (3. Mai 1931) geht er dem Tod ohne Widerstand entgegen, akzeptiert seine Rolle, sucht gleichsam seine Hinrichtung. Doch den Todesahnungen stehen Manifeste der Aufsässigkeit gegen–über, Ausbrüche reiner Vitalität...

O.M.:  Es ist so weit gekommen, daß er im literarischen Handwerk nur noch das wilde Fleisch schätzte, nur noch den wahnsinnigen Auswuchs:
„Und verwundet bis hinein ins Mark
War die Schlucht vom Schrei des Falken –”
das ist es, was er brauchte.

A.D.:  Zu Beginn der dreißiger Jahre stürzte sich M. förmlich ins Leben. „...–es sagte mir: du lebst, hab keine Angst vor deiner Zeit, sei gescheit.” M. Lyrik zeigte diesen mutigen Ton nicht lange.

R.D.:  Einer der Wenigen, die mit jenen revolutionären Geboten Ernst gemacht haben, war M.

N.M.:  Jetzt hörte man die Stimme eines Abtrünnigen, der wußte, warum er allein war, und der seine Einsamkeit zu schätzen wußte...

J.B.:  ..., weil sich sein Selbsterhaltungstrieb längst seiner ästhetik unterworfen hatte. Denn Lyrik ist Sprachethik, und die überlegenheit dieses Lyrischen gegenüber allem, was im menschlichen Zusammenspiel welcher Konfession auch immer erreicht werden könnte, ist das, was ein Kunstwerk ausmacht und es überleben läßt. Eben deshalb hätte der eiserne Besen, dessen Ziel die geistige Kastrierung der gesamten Bevölkerung war, ihn nicht aussparen können.

O.M.:  Die Poesie unterscheidet sich dadurch von automatischer Rede, daß sie uns in der Mitte des Wortes weckt, aufstört. Dann erweist sich das Wort als sehr viel länger, als wir dachten, und wir erinnern uns, daß Sprechen immer Unterwegs–sein heißt.

R.D.:  M. später Lebensweg ist gezeichnet von den Stationen einer (erfolglosen) Beseitigung. Mehr und mehr wurde der Dichter isoliert, totgeschwiegen, (vermeintlich) mundtot gemacht und ins Lager verschickt, wo er am 27. Dezember 1938 umgekommen ist.

J.B.:  Von erschreckender Logik ist der Ort des Konzentrationslagers, in dem M. 1938 starb: nahe Wladiwostok, in den tiefsten Eingeweiden staatseigenen Raumes.

R.D.:  ...im tiefsten Osten von Stalins eisigem Gulag–Dschungel.

O.M.:  „Mit Hundezärtlichkeit schauen mich russische Schriftstelleraugen an und flehen: so krepier doch!”

N.M.:  Sie verstanden unter Macht Kanonen, Strafvollzug, Berechtigungsscheine für alles (auch für Ruhm) und die Möglichkeit, ihr Porträt bei jedem Künstler in Auftrag geben zu können.. M. aber bestand hartnäckig auf seinem Recht – wenn man Menschen für ihre Dichtung in den Tod schickte, so zollte man der Poesie Anerkennung, man fürchtete sich vor ihr, sie war eine Macht.

O.M.:  „Ich wette, daß ich noch nicht tot bin.
Erstickend, und doch will ich leben – bis auf den Tod.”

P.P.:  Ist M's. Leben ein Leben gewesen? Ich glaube nicht, das es irgend einem Leben gleicht, das zu meinen Erfahrungen gehört, seien sie direkt persönlich, vernommen oder ausgedacht.


Anmerkungen

Autor:
Ute Weiss Leder, 1995
unter Verwendung von Zitaten aus folgenden Büchern:
Ossip Mandelstam, Im Luftgrab, Hsg. Ralph Dutli, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 1992
Ossip Mandelstam, Das Rauschen der Zeit, Hsg. Ralph Dutli, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 1991
Ossip Mandelstam, Mitternacht in Moskau, Hsg. Ralph Dutli, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 1990
Nadeschda Mandelstam, Jahrhundert der Wölfe, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 1991
Ossip Mandelstam, Hufeisenfinder, Hsg. Fritz Mirau, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1975