Kurhotel Schützenhof, 1999
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Vergessen und vergessen und vergessen
So wiederholt sich in einer Hip–Hop–Version des Textes „Wolokolamsker Chaussee V” des Dramatikers Heiner Müller, vormals Berlin Ost, durch den Komponisten Heiner Goebbels, vormals Frankfurt West, eine Zeile. Sie hämmert sich ins Gehirn, bis sie zu einer unvergeßlichen Melodie wird. Der Text wurde 1988 vertont.
„Dreh Dich nicht um...”, setzt er sich fort. Nach zwei verlorenen Weltkriegen, zwei mißlungenen Revolutionen und einer als Wende bezeichneten gesellschaftlichen Rückformung eines Drittels des Gesamtdeutschen Landbestandes, wäre das vielleicht eine wünschenswerte Variante des Weiterlebens. Denn Erinnerung an was, für wen und von wem? Auch Erinnerung reißt Gräben auf, denn sie setzt voraus, das Teile des Gesamten vergessen werden, um zu überleben.
Der gesellschaftlich normierte Anspruch auf momentanes totales Vergessen ist in diesem einen Jahrhundert bereits mehrmals über die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland gekommen. Dieses führt zwangsläufig zu Störungen der Wahrnehmungsfähigkeit, der Erinnerungsfähigkeit und des mentalen Verhaltens. Darüber sollten Diskussionen der Strategien der Erinnerung in den Chefetagen der Gesellschaft nicht hinwegtäuschen. Die Haut ist dünn und das Konstrukt, das sie zusammen hält, brüchig, wie uns spätestens die nichtendenwollenden Konflikte auf dem Balkan zeigen.
Nun, Ute Weiss Leder hat sich entschieden, sich zu erinnern. Sich zu erinnern an ein fast schon verschwundenes Haus. Das Haus ihrer Familie. Dieser kleinste Hort bürgerlicher Lebensweise war in ihrem Fall ein Hotel in romantischer Landschaft. Sehen wir heute auf die der Arbeit zugrunde liegenden Fotos, stellt sich ein Gefühl von Agonie und Trauer ein. Schon der äußere Anschein läßt uns erkennen, hier ist etwas verschwunden. Nur die Wände der Behausung, des Gasthauses, des Hotels stehen noch. Die Tapeten geben einen letzten Ausdruck über eine, wenn man so will rhizomisch verflochtene Kultur. Heute fast undenkbar, daß Dutzende verschiedener Tapetenmuster die Räume dieses kleinen Hotels schmückten. Ein Beispiel einer untergegangenen Lebenskultur, die ein letztes Aufleuchten einer Lebensweise war, die im Detail auf den alltäglichen langwährenden würdevollen Umgang mit den Dingen des Alltags beruhte. Vorbei. Durchstreift man Europa, begegnet einem überall, bis auf Enklaven, über die der allgemeine Wohlstand noch nicht hinweggebrochen ist, der Verfall. Der Verfall von Kultur und Lebensweise. Die Folge davon ist ein Verlust an Orientierung, ein Abbruch der Bewahrung und vorsichtigen Weiterentwicklung des überkommenen. Aber etwas Neues ist entstanden. Dieses Neue erscheint uniform, austauschbar, steril, geschichtslos und gesichtslos. Ein kultureller Wechselbalg. Die Wurzeln kultureller Seßhaftigkeit sind abgeschnitten. Was bleibt, ist bestenfalls eine touristische, inselhafte Museumslandschaft. Ein Hopping in Kultur– und Geschichtslandschaft. So leben wir in einem Schnellzug, einem Zug aus dem man nicht aussteigen kann und der dann ab und an entgleist.
Um auf die Spuren der eigenen Existenz zu kommen, muß man sich auf den Weg zurück an die Wurzeln der Herkunft machen. Und nicht umsonst sind die beeindruckendsten literarischen Zeugnisse die, in denen sich in der persönlichen Geschichte die Geschichte des Jahrhunderts auftut. Da ist es dann oft, als ob eine Wolkendecke aufreißt, man mit überklarem Blick auf die Vergangenheit zurücksehen kann. Auf den Katalogseiten erscheint uns Jahr für Jahr als ein Fragment der Erinnerung. Jahrzehnte laufen vor unserem Auge ab, deren Charakter sich durch die Kleidung und die Haltungen der in den Fotos für die vergehende Ewigkeit festgehaltenen Mitglieder der Familie andeuten. Hinter dem für Außenstehende Banal–alltäglichen der Erinnerungsfotos ist man gleichzeitig an Romane und an den Kitsch von Urlaubspostkarten erinnert. Wer waren diese Personen, was haben sie gedacht, was erlebt, wohin ist diese Zeit. Vor den zu verschlissenen Kulissen des Lebens gewordenen Tapeten, wirken die Personen fast nur als Schemen einer Erinnerung. Tot und Geburt, Reise, Ankunft und Abreise ziehen wie ein Hauch der vergehenden Zeit durch den Katalog. Die andere Seite ist die der Jetztzeit, 1999. Die Geschichte der Familie in diesem Haus, die Geschichte des Lebens dieses Hotels ist nahezu zu einem Palimsest geworden. Aber zu einem Palimsest auf dem nie wieder jemand neu schreiben wird. Das Jahrhundert zeigt sich in diesen Fragmenten in einem letzten Spiegel, der immer mehr erblindet. Die Landschaft, die Häuser, die Personen sind verlichtet. Die Reste der gebauten Umwelt zerrinnen oder sind in einem Ambiente restauriert, das ihrem vormaligem inneren Leben nicht mehr entspricht. Der Katalog berichtet so auch über einen langsamen Tod.
Wir stehen am Ende eines Bürgerlichen Jahrhunderts, dessen Ethik und Grundfesten auf dem Privateigentum beruhten. Dieses Recht auf Besitz wurde in der anderen, der sozialistischen Republik, abgeschafft. Das Wort für diesen Vorgang hieß und heißt Enteignung. Diese lief in verschiedenen Stufen ab, deren wohl wirtschaftlich unsinnigste, aber ideologisch notwendige, die Enteignungswelle von 1972, den mittelständigen Eigentümern galt. Damit sollte politisch das Erreichen des Stadiums der entwickelten sozialistischen Gesellschaft nach außen dokumentiert werden. Als Jugendlicher Bürger des Staates Ost glaubte ich meiner Mutter nicht, daß bis in die späten sechziger Jahre viele Dinge des alltäglichen Lebens Stück für Stück besser geworden seien, dann aber alles schlechter wurde. Mit historischem Rückblick ist dieses für das Alltagsleben wohl richtig. Die DDR brach sich mit dieser Enteignungswelle ihren Mittelständischen ökonomischen Halt weg. Die verantwortungsvolle Bindung an Privateigentum wurde aufgelöst und durch eine abstrakte, kollektive ersetzt. Die Ergebnisse sind bekannt. Eines dieser Ergebnisse ersteht vor unseren Augen, betrachten wir die Arbeit Ute Weiss Leders.
Viele Alteigentümer sprechen heute allerdings von drei Wellen der Enteignung, man kann kulturgeschichtlich auch sagen, der Trennung von ihrem Eigentum. Die erste vollzog sich sofort nach 1945 und wird heute angezweifelt. Die zweite haben wir schon erwähnt, als dritte wird die Arbeit der Treuhand verstanden.
Mit der Infragestellung der Bodenreform, die der Sowjetunion symbolisch in die Schuhe geschoben werden soll, aber ein Ergebnis des von Deutschland verantworteten II. Weltkrieges und gleichzeitig Grundlage einer jeden deutschen radikalen sozialistischen Politik war, versucht man wieder, mit dem Vergessen dieser konkreten Umstände historischer Entwicklung, alte verlorene Lebensstrukturen fragmentarisch wiederherzustellen. Erneutes Eigentum an Grund und Boden, an Immobilien, soll etwas zurückbringen, was man verlor. Man ist versucht mit einem arabischen Sprichwort zu antworten: „Doch selten kehrt wieder, was einmal verloren.”
Die Treuhand und ihre Folgeinstitutionen wirken heute bereits nach zehn Jahren als ein fraglicher Versuch, mit den Mitteln der Freien Marktwirtschaft eine ganze Volkswirtschaft wieder in einen Zustand zu versetzen, so als sei beinahe nichts geschehen. Wie will man mit Institutionen und Gottvertrauen kulturelle Entwicklungen korrigieren, die nahezu ein halbes Jahrhundert dauerten und 16 Millionen Menschen betrafen, ohne sich selbst, also alle und das Instrumentarium, zu ändern? Das mußte gerade bei der Wiederherstellung von engagiertem, langwährenden Privateigentum schiefgehen. Es entstanden wiederum Ruinen und nicht nur bauliche.
Entwickelter Kapitalismus kennt keine langfristige Bindung an Eigentum oder Grund und Boden. Dieses ist in einer weltweiten Wirtschaftsstruktur, in der die elektronische Registrierkasse rund um die Uhr klingelt, nur Ballast. Alles und jeder soll disponibel sein, um ein entsprechendes Betriebsergebnis für die Aktionäre zu erzielen. Kapital muß fließen. Nur daß mit der weltweiten, elektronisch gestützten Umsetzung des Spruches, „Taler, Taler, du mußt wandern, von einer Hand zur andern...”, nach einhundert Jahren industrieller Produktion und nunmehr globalen Zahlungsverkehr, die Trümmer vor unseren Augen liegen.
Man kann also eigentlich nur Verluste dokumentieren und Zweifel an der Linearität von Entwicklungen anmelden. Vielleicht eine der Aufgaben des Künstlers zum ausgehenden 20. Jahrhundert.
Peter Lang
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