NEW ERMAKI, Jenissei, Sibirien
September 1993
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Das Schachspiel
I
Im Norden, wo der Fluß seine Ufer unerreichbar dehnt, steht eine verrostete
Lokomotive auf einem schmalen Weg. Die aufgegebene Baustelle ist nur noch zu
ahnen. Jermakovo: eingefallene Bretterwände, lange Gänge, die zu längst
verlassenen Räumen führen, geborstene Dielen, eingesunkene Dächer über unnütz
gewordenem Küchengerät, über Kleidungsstücken aus Staub - und die ins Leere
führenden Treppen, über die nur noch die Zeit geht. Das mußten fünf, sechs Häuser
gewesen sein; einige der unzähligen Baracken.
In dieser Wildnis ragen Turmmale auf, bezeichnen imaginäre Felder, die immer
noch von Stacheldrahtzäunen geschützt, längst mit den über sie kriechenden
Bäumen und Sträuchern verschmelzen. In der Mitte abgestellte Wassereimer, korrekt
zum Kreis ausgerichtet.
Der Anfang der Geschichte stand auf einer Hütte mitten im Sumpf, Buchstaben,
an den Fensterrahmen gebrochen, ungelenk auf die Bretterwand geschrieben.
Worte, deren Deutung in der Einsamkeit des Ortes vergeblich schien: Flughafen
"New-Jermaki".
II
M. baute ein Schachspiel. In dem eintönigen Lagerleben, in dem die Zeit
unerkannt blieb, verlor der Verstand mehr und mehr die Fähigkeit, die Dinge zu
ordnen. Orte, Namen, Ereignisse bildeten ein amorphes Durcheinander, das nicht
mehr zu enträtseln war. M. wollte diesem wüsten Dunkel die Ordnung und die
Vernunft einer vertrauten Welt entgegensetzen: Schach gegen die Unmöglichkeit einer
Eisenbahnstrecke in der Weite des endlosen Sumpfes, Schach gegen die
Verlassenheit von Jermakovo, gegen den Ort ohne Gedächtnis inmitten einer Welt der
Erinnerungen.
Anfänglich spielten einige Gefangene mit M. leidenschaftlich Schach. Es löste
sie für Momente aus der Wirklichkeit ihres unwirklichen Daseins. Doch wie bei
jeder Beschäftigung auf dem abgegrenzten Feld ihres eingepferchten Lebens
erschien ihnen bald, kein Sinn mehr darin zu liegen. Aggressionen wurden spürbar.
Sie selbst fühlten sich beim Anblick des kunstvoll gebauten Brettes
erniedrigt. Es wurde immer deutlicher zu einem Gleichnis ihres eigenen vertierten
Lebens auf einem Schachbrett, auf dem eine ungleiche Partie gespielt wurde. Das
Leben oder das Verlangen zu leben war das Ergebnis ausgeklügelter Pläne und Züge
eines Halbgotts, und seine Absichten undurchschaubar.
III
M. wagte nicht mehr, das Schachspiel am Abend aufzustellen. Wieder legte sich
das Vergessen über die Baracke. In der Nacht träumte er vom Leben vor der
Zeit des Lagers. Aus der Tiefe der Vergessenheit stiegen Bilder auf, deren
Schärfe ihn beängstigte.
An diesem Abend begann er, die Bilder zu bannen. Er baute kleine Gegenstände,
die ihn an Begegnungen erinnerten oder an Orte. Feierlich holte er das
Schachbrett aus dem Versteck und stellte es ohne Angst mitten in der Baracke auf.
Die anderen standen schweigend um ihn und beobachteten sein Tun aufmerksam.
Keiner wagte, eine Bemerkung zu machen oder zu lachen. Dann holte er die kleinen
Gegenstände, die aussahen wie Kinderspielzeug und begann, seine Erinnerungen zu
spielen.
Farbige Spuren seines vergangenen Lebens ignorierten das strategische
Schwarz-Weiß des Bretts und lösten es über die Zeit auf. In die Trostlosigkeit von
Jermakovo kehrte die Leidenschaft zurück und mit ihr verjährte Bilder und
Gefühle.
Die Sanftheit einer Liebe legte sich in die an- und abschwellenden Töne eines
großen Orchesters und verlor sich im gleichförmigen, satten Klang einer mit
Maschinen, Menschen und Schweiß angefüllten Fabrikhalle. Das imaginäre Feld der
Erinnerungen hatte keine Begrenzung.
IV
Als der Frühling kam und sie wieder im Freien sitzen konnten, landeten
Flugzeuge auf dem Schachbrett von Jermakovo.
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